"Das Komitee der Verteidigungsminister" von Anatoli Gribkow
aus: Der Warschauer Pakt: Geschichte und Hintergründe des östlichen Militärbündnisses,
Berlin: Edition q, 1995. pp. 67-76).
Eine äusserst wichtige Rolle kam dem Komitee der Verteidigungsminister zu. Ihm gehörten die Verteidigungsminister aller Teilnehmerstaaten des Warschauer Pakts sowie der Oberkommandierende und der Stabschef der Vereinten Streitkräfte an.
Das Komitee wurde 1969 auf Beschluss des PBA gemäss Artikel 6 des Warschauer Vertrags gegründet und hatte die Aufgabe, Empfehlungen und Vorschläge zu Fragen der Stärkung der Verteidigung, des Aufbaus und der Erhöhung der Gefechtsbereitschaft der Vereinten Streitkräfte auszuarbeiten, die im PBA erörtert werden sollten. Eine zweite Aufgabe des Komitees bestand darin, den potentiellen Gegner und seine operativen Pläne zu beurteilen sowie die Entwicklungsrichtung seiner Streitkräfte zu studieren.
Auf den Tagungen des Komitees wurden auch andere militärische Fragen uns Massnahmen, die einer gemeinsamen Koordinierung bedurften, abgestimmt. Die Vorschläge des Komitees zu grundlegenden militärischen und militärpolitischen Fragen, die gemeinsam entschieden werden mussten, wurden den Regierungen oder dem PBA zur Bestätigung vorgelegt.
Das Komitee tagte ein- bis zweimal jährlich abwechselnd (in alphabetischer Reihenfolge, Russisch war Kommandosprache) in den Teilnehmerstaaten. Den Vorsitz hatte jeweils der Verteidigungsminister des Tagungslandes. Arbeitsorgan des Komitees war der Stab der Vereinten Streitkräfte. Tagungen der Verteidigungsminister der Staaten des Warschauer Pakts hatte es auch schon vor 1969 gegeben, allerdings ohne vertragliche Grundlage. In der Regel fanden sie auf Initiative des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte statt.
Es erhebt sich die Frage, ob die Tagungen des Komitees der Verteidigungsminister immer reibungslos verliefen. Ich hatte Gelegenheit, an der Arbeit des Komitees seit 1976, also seit meiner Ernennung zum Stabschef der Vereinten Streitkräfte, teilzunehmen. Ich kann offen und ehrlich sagen, dass auf allen Tagungen des Komitees die anstehenden Fragen sachlich und konfliktlos erörtert wurden. Dazu trug massgeblich bei, dass die Beratungen von langer Hand vorbereitet und sämtliche Dokumentenentwürfe, die der Stab der Vereinten Streitkräfte und der jeweilige Tagungsvorsitzende vorlegten, zuvor mit den Verteidigungsministern abgestimmt worden waren.
Was die Einbeziehung der politischen Führungen der Vertragsstaaten in die Erörterung der Probleme betrifft, so habe ich bereits erwähnt, das alle Berichte des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte und alle Beschlussentwürfe, die vom PBA erörtert und angenommen werden sollten, vorher im Politbüro des ZK der KPdSU gebilligt werden mussten. Das traf gleichermassen auf die Beschlussentwürfe und Empfehlungen des Komitees der Verteidigungsminister wie des Militärrats der Vereinten Streitkräfte zu. Natürlich haben wir das unseren Verbündeten nicht gesagt, doch sie wussten ohnehin, dass alle Entwürfe vorher vom sowjetischen Politbüro abgesegnet wurden. Auch die Verteidigungsminister unterbreiteten, bevor sie sich zu den Dokumentenentwürfen äusserten, diese zunächst ihrer Staatsführung. Mitunter wurde allerdings dem Oberkommandierenden und dem Stabschef der Vereinten Streitkräfte das Recht eingeräumt, unwesentliche Veränderungen an den vom Politbüro gebilligten Dokumentenentwürfen vorzunehmen oder diese zu ergänzen.
Die Mitglieder des Komitees der Verteidigungsminister waren berechtigt, im Verlauf der Tagungen bei der Entscheidungsfindung ihre besondere Meinung zu Protokoll zu geben, wenn sie mit einem Beschluss nicht einverstanden waren. In diesen Fällen galt der angenommene Beschluss für dieses Komiteemitglied nicht als bindend. Die rumänische Delegation machte sehr oft von diesem Recht Gebrauch. Den rumänischen Genossen musste oft in langwierigen Diskussionen nachgewiesen werden, dass ihre Vorbehalte in dieser oder jener Frage unbegründet waren. Doch sie beharrten auf ihrem Standpunkt, obwohl zu spüren war, dass sie uns innerlich zustimmten. Sie waren aber wie wir an die Weisungen ihrer politischen Führung gebunden.
Die rumänischen und mitunter auch die ungarischen und polnischen Vertreter ersuchten beispielsweise darum, bei der Einschätzung der NATO solche scharfen Formulierungen wie „Imperialisten“, „Aggressoren“ usw. zu vermeiden, vor allem wenn diese Formulierungen in Dokumenten verwendet wurden, die in den Massenmedien veröffentlicht werden sollten.
Das Komitee der Verteidigungsminister hatte jeweils das Budget des Vereinten Kommandos für das kommende Jahr zu bestätigen. Jedes Land steuerte dazu seinen vom PBA 1969 festgelegte prozentualen Anteil bei. Posten dieses Budgets waren: Unterhalt des Vereinten Kommandos in Moskau (Gebäude, Fuhrpark und Dienstleistungen); Bau und Unterhalt von Führungszentren in den Operationsgebieten; Lagerbestände des Oberkommandos (Treib- und Brennstoffe, Munition, Militärtechnik); Miete für Fernmeldeverbindungen; Dienstreisen der Offiziere und Generale des Stabs und anderer Führungsorgane zu den verbündeten Armeen; Durchführung von Tagungen des Komitees der Verteidigungsminister, des Militärrats, des Militärtechnischen Wissenschaftlichen Rats sowie diverser Beratungen und Zusammenkünfte der Führung; Besuche von Vertretern des Oberkommandos in den verbündeten Armeen; Prämienfonds des Oberkommandos; dazu einige weitere Positionen.
Die Abstimmung des Budgets war immer eine sehr belastende Prozedur. Die rumänische Seite beteiligte sich nicht am Budget für den Bau und den Unterhalt der Führungszentren, die Einlagerung materieller Reserven und den Aufenthalt von Vertretern des Oberkommandos der Vereinten Streitkräfte bei der rumänischen Armee (sie wollte keine sowjetischen Offiziere und Generale bei sich haben). Wenn es um die Ernennung von Vertretern des Oberkommandos der Vereinten Streitkräfte bei der rumänischen Armee ging, musste mit der rumänischen Seite immer lange diskutiert werden. Die rumänische Seite vertrat den Standpunkt: "Wir brauchen ihre Vertreter nicht, wenn sie deren Entsendung aber für notwendig halten, dann ist das ihre Sache." Unsere Vertreter, die wir praktisch entgegen dem Willen der rumänischen Seite dennoch entsandten, waren in Rumänien isoliert. Sie bekamen keine Passierscheine für das Verteidigungsministerium und den Generalstab. Truppenbesuche waren ebenfalls ausgeschlossen. Alle Telefongespräche wurden abgehört. Auf die Sonderrolle Rumäniens werde ich später noch eingehen.
Nach Abschluss der Tagungen wurden die Mitglieder des Komitees der Verteidigungsminister stets vom Oberhaupt des jeweiligen Tagungsstaates( dem Generalsekretär der kommunistischen Partei) empfangen. In der Regel erstattete der Vorsitzende der Tagung oder auf Bitte der Komitee-Mitglieder der Verteidigungsminister der Sowjetunion Bericht. Diese Empfänge waren formale Protokollveranstaltungen.
Es war immer etwas problematisch, diesen Empfang in der Sowjetunion zu organisieren, besonders in den letzten Lebensjahren Leonid Breshnews. 1980 musste Dimitri Ustinow ihn lange überreden, die Verteidigungsminister doch wenigstens für fünf bis zehn Minuten zu empfangen. Breshnew war schon sehr krank und konnte kein Gespräch mehr führen. Nach dem Empfang sagte einer der Verteidigungsminister beim Verlassen des Kremls humorvoll zu mir, dass unser gemeinsamer Oberster Befehlshaber der Vereinten Streitkräfte keinesfalls in kampffähiger Form sei.
Ich hatte oft an Empfängen Leonid Breshnews teilgenommen, als dieser noch im Vollbesitz seiner Kräfte war. Doch diesmal befand er sich in einem Zustand völliger Erschöpfung und konnte nur mit Mühe sprechen. Da kein Gespräch zustande kam, schlug Ustinow Breshnew vor, sich mit den Verteidigungsministern fotografieren zu lassen, worauf er gerne einging.
Auch 1988 fand die turnusgemässe Tagung der Komitees der Verteidigungsminister wieder in Moskau statt. Zu dieser war D.T. Jasow Verteidigungsminister. Nach Abschluss der Tagung wurden die Mitglieder der Komitees vom Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Maichail Gorbatschow im Kreml empfangen. Nach einer kurzen Information Jasows über die Komiteetagung brachte Gorbatschow das Gespräch darauf, dass im Volk und in der Armee unbegründete Gerüchte kursieren würden, denen zufolge er nichts für die Armee übrig habe und ihr nicht die gebührende Aufmerksamkeit widme. Er wies das zurück und berief sich auf den Verteidigungsminister Jasow, der bestätigen könne, dass regelmässige Sitzungen des Verteidigungsrates stattfänden, auf denen die Fragen der Landesverteidigung gründlich erörtert würden. Alle Bitten des Verteidigungsministeriums würden vom Politbüro und der Regierung im Rahmen des Möglichen erfüllt. In diesem Sinne sprach er etwa 15 bis 20 Minuten, als wolle er sich vor den Verteidigungsministern der Staaten des Warschauer Pakts rechtfertigen.
Ich verfolgte seine "Beichte" aufmerksam und registrierte innerlich zufrieden, dass die Unmutsäusserungen doch bis zu ihm gelangt waren. Ich dachte, dass er sich nun vielleicht mehr für die Interessen der Streitkräfte einsetzen würde. Doch leider hat unser Oberster Befehlshaber Gorbatschow keinen Finger gerührt, um die Interessen der Streitkräfte des Landes zu verteidigen. Er hat vielmehr selbst (meiner Meinung nach vorsätzlich) in einigen seiner Reden den Massenmedien Anlas dazu gegeben, die Armee buchstäblich in den Schmutz zu ziehen und einen Keil zwischen die Soldaten und Offiziere zu treiben. Das Wort "General" erlangte unter und nach Gorbatschow negativen Charakter.
Bei der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär des ZK der KPdSU hatte ich als Mitglied des ZK für ihn gestimmt. er war jung und energisch, hatte juristische und landwirtschaftliche Hochschulbildung und besass Erfahrungen in der Arbeit im Politbüro. Alle hofften, dass er das Land aus der sehr komplizierten Lage herausführen würde. Seine Perestroika wurde in der Partei und im Volk positiv aufgenommen, obwohl sie keine wissenschaftliche Grundlage hatte und ohne Perspektive vorangetrieben wurde. Das Volk hatte keine Vorstellung davon, was wir umgestalten und welchen Staat wir aufbauen sollten. Ein verantwortungsloses Experiment an unserem grossen Land und dem gesamten sozialistischen System wurde durchgeführt. Gorbatschows nächste Umgebung - Alexander Jakowlew, Eduard Schewardnadse und andere - verursachte ein Chaos in der Wirtschaft, in der Ideologie und im sozialen Leben. Die Aussenpolitik richtete sich nach den langgehegten Wünschen des Westens und in erster Linie der USA.
Gorbatschow begann die "Säuberung" des Zentralkomitees der Partei und entfernte über hundert Mitglieder und Kandidaten des ZK aus diesem Gremium. Dazu gehörten an Militärs: fünf Marschalle der Sowjetunion ( N.W. Ogarkow, S.L. Sokolow, W.I. Petrow, S.K. Kurkotin, W.G. Kulikow), fünf Armeegenerale ( A.T. Altunin, M.M. Saizew, I.A. Gerassimow, A.I. Gribkow, I.G. Pawlowski) sowie Flottenadmiral G.M. Jegorow. Sie alle waren sei 50 Jahren Mitglied der Partei und hatten an zwei Kriegen teilgenommen. In der Geschichte der Partei hatte es nicht einmal unter Stalin eine derartige Willkür gegeben. So bahnte sich Gorbatschow den Weg zum Verrat der Partei, des Volks und der Verbündeten im Warschauer Pakt.
Ich denke, es wird den Leser interessieren, wie diese "Säuberung" des ZK der KPdSU im Jahre 1989 ablief.
Einen Tag vor dem Plenum lud mich ein Mitarbeiter des Apparats telefonisch zu einer Beratung des Sekretariats des ZK in das Gebäude am Alten Platz ein. Ich dachte, dass man es nun endlich doch für notwendig hielt, sich mit den Mitgliedern des ZK zu beraten. Bis 11 Uhr hatte sich der Sitzungssaal gefüllt. Alle warteten, wer den Vorsitz führen würde. Dann betraten die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros sowie die Sekretäre des ZK den Saal und nahmen im Präsidium Platz. In der Regel sassen bei den Plenartagungen des ZK nur die Politbüromitglieder im Präsidium . A.T. Altunin, der neben mir sass, und ich tauschten dazu unsere Gedanken aus und meinten, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignen würde, was dann auch eintraf. Gorbatschow erhob sich und sagte: "Wir haben uns gestern mit einigen verdienten Mitgliedern des ZK beraten und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir die Zusammensetzung des ZK erneuern müssen. Deshalb sollen diejenigen, die das Rentenalter erreicht haben, ihren Platz freiwillig an Arbeiter abtreten, die auf unseren Vorschlag in das ZK kooptiert werden." Eine Erklärung über unser "freiwilliges" Ausscheiden aus dem ZK sei bereits vorbereitet, die wir, wenn es keine Einwände gebe, nur noch zu unterschreiben brauchten. Morgen werde dann auf dem Plenum des ZK zu dieser Erklärung ein Beschluss gefasst werden.
Damit wollte er die "Beratung" beenden. Doch es kam noch zur Diskussion, bei der konkrete Fragen gestellt wurden: Warum wird das Statut der Partei verletzt? In der Geschichte der Partei hat es einen derartigen Massenausschluss aus dem ZK noch nie gegeben, wodurch haben wir uns schuldig gemacht? Was werden unsere Genossen über uns und das Politbüro denken? Die Diskussionsredner verlangten, den Text der Erklärung dahingehend zu verändern, dass nicht der Eindruck entstehe, wir würden "das sinkende Schiff" verlassen. Alles wurde vom Präsidium zur Kenntnis genommen, trotzdem aber blieb man bei der Forderung, die Erklärung zu unterschreiben.
Wir, die elf Militärs, waren alle noch im Dienst, keiner von uns war im Ruhestand (einige wurden erst 1992 in den Ruhestand versetzt, andere sind noch heute im aktiven Dienst). Ich sagte meinem Nachbarn A.T. Altunin, dass ich diese Erklärung nicht unterschreiben würde, und schlug vor, den Saal zu verlassen. Aber er zögerte. Cih begab mich zum Ausgang. An der Tür fragte mich Rasumow (stellvertretender Leiter der Abteilung Organisation und Propaganda des ZK), ob ich die Erklärung unterschrieben hätte. Empört antwortete ich: "Warum soll ich unterschreiben, und warum fragen Sie mich das? Das ist meine persönliche Angelegenheit, und ich lasse mich nicht unter Druck setzten."
Ich fuhr zum Stabsgebäude auf dem Leningrader Prospekt, sass in meinem Arbeitszimmer und überlegte, wie die Sache wohl ausgegangen sein und wie meine Genossen aus den Streitkräften reagiert haben mochten. Etwa eine Stunde später beschloss ich, Kulikow anzurufen. Von ihm erfuhr ich, dass alle anwesenden Militärs die Erklärung unterschrieben hatten. Er gab mir den Rat: "Fahre hin und unterschreibe auch, sonst hält man dich für einen Oppositionellen." Na, dachte ich, das ist wohl nicht zu befürchten.Ich hatte gerade den Hörer aufgelegt, als mein Adjutant hereinkam und mir sagte, dass mich General A.D. Lisitschew (Chef der Politischen Hauptverwaltung der Sowjetarmee und der Seekriegsflotte) dringend suche. Jetzt geht es los, dachte ich.
"Sag ihm, dass ich in meinem Arbeitszimmer bin."
Das Telefon läutete.
"Anastoli Iwanowitsch, waren Sie im ZK am Alten Platz?"
"Ja."
"Haben Sie die Erklärung unterschrieben"?
"Nein, ich habe nicht unterschrieben."
"Aber warum denn nicht, alle anderen haben doch unterschrieben. Sie müssen."
"Alexej Dmitrijewitsch, bitte setzten Sie mich nicht unter Druck. Ich bin Während der schweren Kämpfe 1940 im sowjetisch-finnischen Krieg freiwillig in die Partei eingetreten. Ich entschiede selbst, ob ich die Erklärung unterschreibe, und ich bitte Sie, mich nicht zu drängen."
"Anatoli Iwanowitsch, ich sage das doch nicht aus eigener Initiative, sondern im Auftrag."
"Und wer hat Sie beauftragt?"
"Sie wissen doch, wer mir Weisungen erteilen kann." (Offensichtlich kam die Weisung von Gorbatschow)
"Ich möchte hiermit dieses Gespräch beenden", sagte ich zu Lisitschew und legte auf.
Ich blieb noch eine knappe Stunde sitzen, fuhr dann los und unterschrieb die Erklärung. Anschliessend bereitete ich eine Wortmeldung für das Plenum vor.
Am nächsten Tag eröffnete Gorbatschow im Kreml das Plenum, auf dessen Tagesordnung allein die Frage des "freiwilligen" Ausscheidens von 110 Genossen aus dem ZK stand. Er hatte für die Tagung höchstens eine Stunde vorgesehen. Aber dann kam es zu Wortmeldungen, die zum Ausdruck brachten, dass es sich hierbei um eine Verletzung des Statuts der Partei handle. Es wurde vorgeschlagen, die Entscheidung dieser Frage auf den bevorstehenden XXVIII. Parteitag zu vertagen. Gorbatschow wies die Argumente der Redner zurück und schlug den Anwesenden vor, die Sitzung zu beenden und die von den Genossen unterschriebenen Rücktrittserklärungen anzunehmen. Doch die Mitglieder des ZK verlangten die Weiterführung der Sitzung. Die Redner diskutierten zunehmend über die katastrophale Lage im Lande und äusserten sich kritisch über das Politbüro und Gorbatschow. Die Sitzung dauerte weitaus länger als eine Stunde. Drei Pausen wurden eingelegt. Es sprachen etwa dreissig Genossen. Ich hatte begriffen, dass die Frage im voraus entschieden war, und beschloss deshalb, mich nicht zu Wort zu melden. Gorbatschow hörte nicht auf die Meinung der Diskussionsredner. Er setzte seine Linie durch, und die Erklärung wurde angenommen. So machte er sich von der alten Garde der Partei frei.
Die Autorität des Generalsekretärs und Präsidenten Michail Gorbatschow nahm immer mehr ab und erreichte schliesslich den Nullpunkt. Er konnte nicht zuhören, dafür aber stundenlang über die "Perestroika" und die "menschlichen Werte" reden. Im Ergebnis seiner Perestroika zerfiel nicht nur der mächtige Staat, sondern auch dessen politisches System und ökonomisches Potential. Die Armee wurde zerrüttet. Er verriet alle seine Verbündeten im Warschauer Pakt. Nun fliegt er durch die ganze Welt, erhält kleine Gaben, Auszeichnung und Titel. Man hofiert ihn in Deutschland und Amerika. Ihm wurde anstelle von General Bersarin, der sich um Berlin bleibende Verdienste erworben hat, die Ehrenbürgerschaft dieser Stadt verliehen. Ich denke, dass später einmal die Geschichte über Gorbatschow ein objektives und strenges Urteil sprechen wird.
ARMEEGENERAL ANATOLI I. GRIBKOW war von 1976 bis 1989 Stabschef der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Pakts. Zusammen mit dem amerikanischen General William Y. Smith hat er 1994 seine persönlichen Erinnerungen über die Kubakrise von 1962 herausgegeben: Operation Anadyr : U.S. and Soviet Generals Recount the Cuban Missile Crisis (Chicago: Edition q: 1994). Auf deutsch erhältlich ist zudem Im Dienste der Sowjetunion: Erinnerungen eines Armeegenerals (Berlin: Edition q: 1992).